Da unser alter Empathie-Thread nicht so richtig gut verlaufen ist, würde ich hier gerne nochmal einen zweiten Versuch starten, um über das Thema zu sprechen.
Wikipedia definiert Empathie als "die Fähigkeit und Bereitschaft, Empfindungen, Emotionen, Gedanken, Motive und Persönlichkeitsmerkmale einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden".
Man spricht in diesem Zusammenhang oftmals von kognitiver ("kalter") Empathie, die das Verstehen betrifft, und emotionaler ("warmer") Empathie, die sich auf das Nachempfinden bezieht.
Diese beiden Varianten sind in Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt.
Einige Menschen können besser mitfühlen, andere können besser mitdenken. Beides hat Vor- und Nachteile.
Ich persönlich würde mich auf der kognitiven Seite einordnen. Dadurch trete ich in zwischenmenschlichen Kontakten eher etwas kühler und distanzierter auf. Ich reagiere emotional nicht sonderlich stark auf die Stimmungen anderer und spiegle sie nicht innerlich.
Wenn jemand weint, macht mich das nicht auch traurig. Wenn jemand lacht, hebt das nicht zwangsläufig meine Laune. Wenn jemand Frust schiebt, ärgere ich mich nicht automatisch mit.
Ich bemerke immer wieder, dass Menschen, die anders gestrickt sind und auf der emotional-empathischen Seite verordnet sind, diese charakterliche Ausrichtung befremdlich finden. Sie assoziieren damit oft maligne Persönlichkeitsstrukturen und amoralisches, egoistisches, ausbeuterisches, manipulatives Verhalten. So nach dem Motto: 'Du würdest meinen Schmerz nicht mitfühlen, also hättest du auch kein Problem damit, mir zu schaden.'
Diese Menschen nehmen Mitgefühl, so scheint es mir, als grundlegenden moralischen Wegweiser wahr. Die Entscheidung darüber, was richtig und was falsch ist, erfolgt tendenziell aus dem Bauch heraus. Sie basiert zu großen Teilen auf Emotionen, die man selbst hat und die man von anderen Menschen, die einem nahestehen, empfängt.
Das Problem, das ich dabei sehe, ist die Tatsache, dass emotionale Empathie selektiv ist. Menschen fühlen in der Regel deutlich stärker mit jemandem mit, der ihnen ähnlich ist, während die Emotionen von Personen, die ihnen fremdartig erscheinen, nicht adäquat gespiegelt werden können.
Das produziert Wahrnehmungs- und Verhaltens-Diskrepanzen, die von den Betroffenen oftmals gar nicht erkannt werden.
Es fällt emotional-empathischen Menschen extrem leicht, sich einer Person ihrer "In-Group" gegenüber sozial korrekt zu verhalten, weil sie intrinsisch dazu motiviert und mit gespiegelten Gefühlen belohnt werden, während Personen der "Out-Group" gerne mal vom Tisch fallen, weil deren Emotionen nicht mitgefühlt und dadurch manchmal auch gar nicht wahrgenommen werden.
Das fördert diverse gruppendynamische Effekte, sowohl positive, als auch negative.
Ein kognitiv-empathischer Mensch hingegen unterliegt diesen Effekten in deutlich geringerem Maße, fühlt aber dafür auch mit der "In-Group" nicht so stark mit, reagiert schwächer auf deren emotionale Bedürfnisse und muss sich moralisches, soziales Verhalten insgesamt deutlich stärker selbst erarbeiten, weil es eben nicht instinktiv auf der Gefühlsebene stattfindet.
Das nur mal so als gedanklicher Einstieg in das Thema.
Was denkt ihr darüber? Kommt mein Eindruck ungefähr hin oder seht ihr das anders?