Ich lese gerade "Aussage gegen Aussage – Urteile ohne Beweise" von Alexander Stevens.
Wir hatten das Thema hier ja schon mal in irgendeinem anderen Zusammenhang.
Erst jetzt wird mir so richtig klar, wie die deutsche Rechtsprechung aufgebaut ist und dass die Aussage eines vermeintlichen Opfers komplett ohne Beweise für einen Schuldspruch ausreichen kann, solange der Richter subjektiv entscheidet, dass er keine Zweifel hat.
Das von Stevens gewählte reale Beispiel ist dabei in meinen Augen ein echter Grenzfall:
Ein erfolgreicher Politiker und eine Praktikantin treffen sich auf einer Party. Sie spricht ihn an der Bar an, die beiden unterhalten sich, flirten ein wenig miteinander, aber die Musik ist laut, also schlägt er vor, nach draußen zu gehen.
Vor dem Eingang steht ein Bierwagen, dahinter küssen sich die beiden, es kommt zum Sex. Er behauptet: Einvernehmlich. Sie: Uneinvernehmlich.
Die Sache wird dadurch beendet, dass eine Parteikollegin nach draußen tritt, um eine zu rauchen. Sie sieht die beiden gemeinsam hinter dem Bierwagen hervortreten und hastig mit gesenkten Köpfen wieder reingehen.
Ein paar Minuten später kommt das vermeintliche Opfer wieder nach draußen, um den Slip zu suchen, den sie hinter dem Bierwagen verloren hat. Die Parteikollegin ist immer noch da und telefoniert.
Die Praktikantin sagt aus: "Das war mir so unangenehm. Sie hat mich dann auch prompt gefragt, ob ich was verloren hätte. Ich habe mich in dem Moment so dumm gefühlt. Ich habe mich so geschämt."
Daraufhin bricht sie in Tränen aus und spricht von einer Vergewaltigung.
Die Kollegin geht rein, verpasst dem vermeintlichen Täter eine Ohrfeige und nennt ihn ein mieses Schwein. Das bekommt ein Parteikollege mit, der zufällig auf der parteiinternen Nachrückerliste direkt hinter dem Beschuldigten steht.
Er erstattet gegen den ausdrücklichen Willen der Praktikantin ein paar Tage später Anzeige und es kommt zum Prozess.
Beweise gibt es keine. Die Praktikantin war nicht beim Arzt oder bei der Polizei, um Spuren sichern zu lassen. Die Parteikollegin hat nichts mitbekommen.
Der Beschuldigte beharrt darauf, dass der Sex einvernehmlich war. Die Beschuldigende sagt, sie sei zu überrascht gewesen, um sich zu wehren oder um Hilfe zu rufen.
Beide waren angetrunken.
Das Urteil basiert also nur auf dem persönlichen Ermessen des Richters. Er glaubte der Praktikantin, die sehr emotional auftrat. Der Beschuldigte blieb hingegen starr und wortkarg.
Er wurde zu sechs Jahren Haft verurteilt und erhängte sich am Tag nach der Verhandlung in seiner Zelle.
Stevens schreibt dazu:
"Der Richter erhält damit per Gesetz die Fähigkeit, aufgrund einer zweifelhaften Beweislage zu verurteilen, sofern er nur selbst nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keine Zweifel mehr hegt – selbst wenn andere zu der übereinstimmenden Auffassung kommen, dass der Richter angesichts der Umstände des Falles durchaus erhebliche Zweifel hätte haben müssen."
Diese Art der Rechtsprechung wird in vielen Ländern anders gehandhabt. Dort gilt die Aussage eines vermeintlich Geschädigten nicht als ausreichend belastbares Beweismittel, wenn sie nicht von zusätzlichen Indizien gestützt wird, so wie auch die Aussage des Beschuldigten nicht als ausreichender Beweis gilt, weil beide Parteien vor Gericht klare Interessen verfolgen und nicht als neutrale Zeugen betrachtet werden.
Wie denkt ihr darüber?
Welche Art der Rechtsprechung findet ihr sinnvoller?