Fiktives / Literatur

  • Der Mann, der an diesem Morgen am Abgrund steht, heißt Stefan Ziegler. Er ist sechsundfünfzig Jahre alt und trägt einen dunkelgrauen Maßanzug, das Haar ist akkurat gekämmt, die schwarzen Budapester glänzen.

    Sein lederner Aktenkoffer liegt vor dem Geländer auf dem Boden, er selbst steht dahinter, den Körper gegen die Metallstangen gepresst, die Finger um den Handlauf gespannt. Er ist kurz davor, loszulassen, aber noch hat er diesen Moment nicht erreicht.


    Die Luft ist klar, der Himmel ein wolkenfreies, unverfälschtes Blau, das nur hin und wieder von zerfaserten Kondensstreifen durchbrochen wird.

    Gedämpfter Verkehrslärm dringt aus der Tiefe empor: das Grundrauschen einer Stadt, in der im Schnitt zehn Menschen pro Woche versuchen, sich das Leben zu nehmen.


    Für sie, die Stadt, wird er immer nur eine Randnotiz bleiben, eine Halbzeile im Lokalteil, ein mit Polizeiband abgesperrter Bürgersteig, vielleicht ein verbeultes Schild, Fußgänger bitte andere Straßenseite benutzen, quittiert von ein paar genervten Blicken - geworfen von Menschen, die Pappbecher mit Chai Latte in den Händen halten, sich Krawatten richten und in festen Intervallen auf Smartphones starren. Menschen, jung und dynamisch, mit dem gewissen Maß an Biss, das ihnen in Dutzenden von Leadership-Seminaren antrainiert worden ist.

    Er war mal wie sie, und jetzt ist er es fast noch, und dieses winzige Wörtchen, dieses unerhörte ‘fast’, ist der Grund dafür, warum er jetzt hier steht. Und warum wenige Meter unter seinen Füßen Frank Wagner sein Büro bezieht.


    Seine Finger schwitzen inzwischen, und das, obwohl die Luft kalt ist. Er löst die linke Hand vom Geländer, dann die rechte. Jetzt steht er da wie auf einem Schwebebalken, mit zur Seite ausgestreckten Armen, die Zehenspitzen parallel direkt an der Kante.

    Über dem Horizont liegt eine gelblich-graue Dunstschicht.

    Einatmen. Ausatmen. Einatmen.


    »Hey Stefan.«

    Er erkennt die Stimme sofort. Diese einnehmende, eine Spur zu souveräne Stimme. Er weiß, dass es jetzt an der Zeit ist, den letzten Schritt zu tun, aber es gelingt ihm nicht. Schon verrückt, was eine einzige Person so alles kaputt machen kann. Selbst diesen einen entscheidenden Moment.

    Er greift nach dem Geländer und wendet den Kopf.


    Frank Wagner steht nur wenige Schritte hinter ihm, die Hände mit eleganter Lässigkeit in den Taschen vergraben. Sein Blick wirkt leicht irritiert, mehr nicht.

    »Hast du mal Feuer?«

    »Was?« Stefans Stimme klingt ungewohnt rau.

    »Ob du mal Feuer hast.« Wagner tritt ans Geländer, lehnt sich dagegen und schaut auf die Stadt hinaus.


    Einen Augenblick lang hat Stefan das Gefühl, lachen zu müssen, er weiß selbst nicht genau, warum. Vielleicht ist es Wagners unangemessen nonchalante Reaktion. Vielleicht die Tatsache, dass er raucht. Gerade er, der Perfekte, der aussieht, als würde er sich von nichts außer grünem Tee und Bioprodukten ernähren.

    »Ah, warte. Passt schon.« Wagner zieht ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche. »Interessierst du dich für Physik?«

    Stefan runzelt die Stirn.

    »Nach da unten sind’s was? Vierzig Stockwerke?« Wagner beugt sich über das Geländer. »Sag du’s mir, du arbeitest schon länger hier.«

    Schweigen. Irritation. Irgendwo in der Ferne lärmt ein Presslufthammer.

    »Auf jeden Fall sind’s hundertfünfundfünfzig Meter«, fährt Wagner fort. »Da bin ich mir ziemlich sicher.«

    Das Feuerzeug klickt.

    »Lass uns die Sache mal kurz durchrechnen, okay? Hundertfünfundfünfzig mal zwei sind dreihund, das Ganze durch 9,81, sagen wir zehn, macht dreißig. Und davon die Wurzel … Irgendwas zwischen fünf und sechs. Richtig?«

    »Was?«

    »Die Fallzeit. Fünfeinhalb Sekunden.« Wagner bläst den Rauch in die Luft. »Ganz schön lange, wenn du mich fragst. Lange genug, um es sich unterwegs nochmal anders zu überlegen.« Er setzt ein Lächeln auf, das Stefan nicht zu interpretieren weiß. »Was nicht heißen soll, dass ich glaube, du hättest dir die Sache nicht gut genug überlegt. Aber willst du einen Tipp haben?«

    Eine rhetorisch wohlkalkulierte Pause.

    »Mach’s anders. Kauf dir zwei Flaschen Wodka und ‘ne Knarre, setz dich ins Auto, fahr ins Grüne, irgendwo in den Wald oder so.« Er macht eine Kopfbewegung in Richtung des Stadtrands, als hätte er bereits die perfekte Stelle im Hinterkopf. »Keine Zeit, nachzudenken, verstehst du? Keine Zweifel. Keine fünfeinhalb Sekunden. Einfach den Finger krümmen und Licht aus.«


    In diesem Augenblick glimmt ein erster Funke in Stefans Gehirn auf. Ein Gefühl, das er seit Tagen nicht mehr gespürt hat. Jetzt ist es wieder da, präsenter denn je: Wut.

    Er starrt Wagner an und ihm fehlen die Worte. Seine Finger spannen sich fester um das Geländer. Er atmet flach. In der Ferne dröhnen Flugzeuge.


    »Warum tust du das?«, fragt er leise.

    »Warum tue ich was?«

    Warum trittst du einen Mann, der am Boden liegt?

    »Ich sage dir nur, was ich in deiner Situation tun würde, Stefan. Was du mit dem Feedback anfängst, ist deine Sache.«

    »Dem Feedback?«

    »Dem Hinweis. Dem Vorschlag. Nenn es, wie du willst.«

    Und immer noch sitzt dieses Lächeln in Wagners Gesicht. Dieses merkwürdig deplatzierte Lächeln. Brennmaterial für den Funken in Stefans Kopf, der jetzt zu schwelen beginnt, mit jedem Atemzug heißer wird und dann -

    »Ich wollte nur helfen.«

    - entflammt.


    »Du hast recht«, sagt Stefan und es gelingt ihm nicht ganz, den schrillen Unterton in seiner Stimme zu unterdrücken. »Du hast vollkommen recht. Ich sollte … Ich sollte … Man muss das anders machen. Das ist eine sehr gute Idee.« Während er diese Worte hervorpresst, steigt er unbeholfen zurück über das Geländer. Seine Hände zittern immer noch, aber diesmal aus einem anderen Grund. »Da hätte ich selbst drauf kommen können. Dann … dann muss auch keiner hier den ganzen Dreck wegmachen.«

    Jetzt steht er neben Wagner.

    »Ich sollte mich bedanken, nicht wahr? Ich sollte dankbar sein für … das Feedback. Kritikfähigkeit. Ich sollte kritikfähig sein, nicht wahr?«

    Er ballt die Hand zur Faust und schlägt zu, so plötzlich, dass es Wagner nicht einmal gelingt, eine Abwehrbewegung zu machen.


    Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass Stefan jemanden schlägt. Selbst in der Schule hat er sich nie geprügelt, nicht mal zum Spaß. Er war eines der ruhigen Kinder, er konnte schnell laufen. Aber jetzt zögert er nicht. Seine Faust trifft Wagners Nase. Etwas knackt. Das Geräusch ist schockierend und befriedigend zugleich.

    Wagner stößt einen Schmerzenslaut aus, schlägt die Hand vors Gesicht und taumelt einen Schritt rückwärts. »Fuck.« Kaum mehr als ein Flüstern.


    Stefan steht da und weiß nicht, wie er reagieren soll. Der Schlag hat gesessen - und jetzt? Was jetzt?

    »Das … wollte ich nicht.« Der Satz ist ein Reflex, ein deplatziertes Relikt seiner guten Erziehung. Nur mit Mühe kann er sich die obligatorische anschließende Entschuldigung verkneifen.


    Wagner lässt die Hand sinken. Aus seiner Nase rinnt Blut, eine erschreckende Menge. »Ist klar.« Die kühle Distanz ist aus seinem Blick gewichen. Jetzt lodert darin ein Ausdruck, der Stefan unter anderen Umständen Angst machen würde.


    Dann geht alles blitzschnell.

    Wagner prescht nach vorne, packt ihn am Kragen und stößt ihn brutal gegen das Geländer.

    Er holt zum Schlag aus. Schützend hebt Stefan die Arme, aber er ist zu langsam. Schmerz explodiert in seiner Magengrube. Seine Knie geben nach. Einen Augenblick lang schrumpft die Welt in sich zusammen, zu einem einzigen, grellweißen Lichtpunkt auf seinen Netzhäuten, dann kippt sie zur Seite und er mit ihr.

    »Was ist?« Wagners Stimme, dicht neben seinem Ohr. »Tut das weh?«

    Stefan versucht, zu antworten, aber alles, was er über die Lippen bringt, ist ein würgendes Husten. Er blinzelt. Sieht Wagner, der neben ihm in die Hocke gegangen ist, sein Gesicht, leicht gebräunt und blutig, und seine Augen, denen plötzlich ein merkwürdiger Ausdruck inneliegt, den Stefan nicht zu deuten weiß.


    »Ich sag dir jetzt mal was, du Penner.« Wagners Stimme klingt befremdlich ruhig. »Eines Tages werde ich da stehen, wo du jetzt stehst. Dafür werde ich neunzig Stunden pro Woche gearbeitet haben, dreißig verdammte Jahre lang. Und wenn du Arschloch jetzt springst, dann werde ich das wahrscheinlich irgendwann auch tun.«


    Er erhebt sich aus der Hocke und bleibt sekundenlang neben Stefans gekrümmtem Körper stehen. Sein Blick ruht auf der Stadt, während er mit geübten Bewegungen seine Krawatte richtet.

    Dann wendet er sich zum Gehen.


    Stöhnend wälzt Stefan sich auf den Rücken. Der Himmel ist klar und kalt und blau. Er atmet tief ein und wieder aus.

    Als Wagners Schritte verhallen, lässt der Schmerz nach.

  • Das liest sich ja richtig professionell. Finde ich jedenfalls.

    Danke.

    Ich habe den Text bereits vor ein paar Jahren geschrieben und jetzt wiedergefunden.

    "als hätte er bereits die perfekte Stelle im Hinterkopf"

    Es ist interessant für mich, welche Stellen welche Menschen auffällig finden. Meine damalige Freundin fand die Formulierung "leicht gebräunt und blutig" ansprechend. Was immer das heißen mag.



    Auf jeden Fall bin ich froh, dass du den Text gelesen hast. Danke.

  • Es ist interessant für mich, welche Stellen welche Menschen auffällig finden.

    Das liegt in diesem Fall vielleicht daran, dass sich ein Bekannter von mir genau auf diese Weise umgebracht hat. Als hätte er Wagners Feedback zu hundert Prozent umgesetzt.

    Auf jeden Fall bin ich froh, dass du den Text gelesen hast. Danke.

    Ich habe doch gesagt, ich würde gerne was von euch Literaten lesen.


    Bloß gut, dass ich noch nie was geschrieben habe... so komme ich erst gar nicht in Konflikte, ob mich trauen soll, das hier einzustellen! ;)

  • Meine Hemmungen halten sich in Grenzen. Ich habe gerade eine Weinflasche zur Hälfte geleert. Um sechzehn Uhr. Weil ich nach fünf anstrengenden Tagen Feierabend habe. Ich darf das sowas von.

    Òó

  • Mir gefällt dein Text. Zwei arme Schweine, Lohnsklaven.

    Es liest sich flüssig, und die Protagonisten sind hinreichend beschrieben.


    Die Szene mit der Auseinandersetzung finde ich nicht glücklich, vom reinen Ablauf her. Die beiden stehen ja dicht zusammen.

    Was soll der Wagner den groß ausholen, wenn er dem Gegner aus geringer Distanz in den Magen boxt?

    Und Stefan sieht höchstens die Bewegung der Schulter, das mit dem Arm hochreißen, naja.


    Stell dir das tatsächlich mal bildlich vor.

    Zitat

    Dann geht alles blitzschnell.

    Wagner prescht nach vorne, packt ihn am Kragen und stößt ihn brutal gegen das Geländer.

    Er holt zum Schlag aus. Schützend hebt Stefan die Arme, aber er ist zu langsam. Schmerz explodiert in seiner Magengrube.


    Der Rest gefällt mir.

  • Ich will was von dir lesen.

    Da muss ich dich enttäuschen. Dafür müsste ich mir so viel Mut antrinken, dass ich nicht mehr in der Lage wäre, den Laptop zu handeln...

    Ich habe den Eindruck, über Literatur kommen Themen raus, die man selbst nicht ganz begreift. Irgendwann später, wenn man mehrere Texte gemeinsam betrachtet, ergibt sich dann ein entsprechendes Bild.

    Worin besteht die Gemeinsamkeit?

  • Was soll der Wagner den groß ausholen, wenn er dem Gegner aus geringer Distanz in den Magen boxt?

    Mein Hintergedanke dabei ist, dass Stefan keine Ahnung von richtigen Schlägen hat. Er denkt, sein Schlag war hart, aber er weiß gar nicht, was ein richtiger Schlag ist. Dadurch klappt er komplett zusammen, als Wagner ihn trifft. Der eine ganze andere Motivation für seinen Faustschlag hat und dementsprechend etwas ganz anderes reinlegt.

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