Ich habe vor ein paar Wochen einen Artikel im Stern gelesen, der sich mit dem Thema beschäftigt, und fand ihn sehr interessant.
In dem Bericht wird ein Ehepaar vorgestellt: Er ist 71 Jahre alt, sie 66. Er leidet seit Jahren unter unheilbaren, sehr starken Schmerzen, die er mit Morphium in Schach halten muss, sie ist vollkommen gesund.
Sterben wollen beide, denn sie kann sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.
Sie wenden sich daraufhin an den Verein Sterbehilfe in Hamburg, der – nachdem der Bundesgerichtshof den Paragraphen 217 gekippt hat – Suizidwilligen Hilfe leisten darf. Voraussetzung ist, dass die Personen über einen freien Willen verfügen, weder an einer fortgeschrittenen Demenz noch an einer akuten psychischen Störung leiden, und auch nicht von anderen Menschen zu ihrem Todeswunsch gedrängt wurden.
Zu diesem Zweck werden mehrere Gespräche geführt und im Anschluss ein psychologisches Gutachten erstellt.
Zitat:
Etwa zehn Prozent der Anträge seien abgelehnt worden. "Den 25-jährigen mit Liebeskummer haben wir nie gehabt. Ihm würden wir auch nicht helfen", sagt Kusch.
Spreche für den Verein nichts gegen einen Suizid, verschreibt ein Arzt zwei Mittel, die zum Todescocktail gemischt werden. Die Medikamente führten schnell zum Schlaf und zeitversetzt zum Herzstillstand.
Das Gift wird durch einen Bestatter vorbeigebracht und kann dann selbstständig in der eigenen Wohnung eingenommen werden.
Das Paar, das im Artikel vorgestellt wird, besteht das erste psychologische Gutachten nicht.
Dem Ehemann wird eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, seiner Frau wird gesagt, "dass ihr vermeintlich gefasster Sterbewunsch vollständig von dem Ansinnen ihres Ehemannes abhängt, ohne dass zu erkennen ist, dass ihr Sterbewunsch einem autonomen Willen entspringt."
Die Ablehnung trifft die beiden hart, also lassen sie sich weitere Gutachten ausstellen. Von der Psychologin, bei dem der Ehemann wegen seiner Erkrankung in Behandlung ist, der Neurologin, dem Hausarzt – während sie gleichzeitig nach alternativen Methoden suchen.
Zitat:
Nur wie? Im Internet Medikamente bestellen? Zu unsicher. Vor einen Zug springen? Das wollen sie dem Lokführer nicht antun. Schlaftabletten? Gefährlich, wenn man da wieder aufwacht, vielleicht mit Behinderung. Waffen haben sie nicht. Sie wollen darüber mit niemandem sprechen.
Schließlich lässt der Verein, mit dem die beiden eng in Kontakt stehen, ein zweites Gutachten von einem anderen Psychiater erstellen. Diesmal wird keine Willenseinschränkung erkannt und das Ehepaar wird für den Sterbeprozess zugelassen.
Die beiden beginnen, ihren Nachlass zu ordnen, dann werden Familie und Freunde informiert.
Die Reaktionen sind gemischt. Der Sohn aus erster Ehe reist an, um den Vater nochmal zu treffen. Die Schwiegertochter bricht den Kontakt komplett ab. Viele Freunde ziehen sich zurück.
Ein genauer Termin wird bewusst nicht bekannt gegeben, um zu verhindern, dass jemand am Sterbetag auftaucht und versucht, die beiden davon abzuhalten.
Drei weitere Monate vergehen.
Zitat:
Karl-Heinz Rohde sagt: "Wir sind im Frieden. Alle um uns herum haben die Entscheidung akzeptiert."
In all der Zeit ist kein professioneller Helfer dagewesen, der mit beiden über Alternativen zum Sterben gesprochen hätte. Es ist auch jetzt niemand da. Kein Seelsorger, kein Psychologe, keine Ärztin.
(...)
Sie sollten vorher leichte Speisen zu sich nehmen – und ansonsten alles mit dem Sterbehelfer absprechen.
Am vierten April dieses Jahres war es dann so weit.
Obwohl ich Sterbehilfe prinzipiell begrüße und denke, dass jeder Mensch ein Recht darauf haben sollte, selbstbestimmt zu gehen, hat mich der Artikel ambivalent zurückgelassen.
Irgendwas daran gefällt mir nicht so richtig, und ich glaube, Grund dafür ist die Rolle der Ehefrau, die ihrem Mann in den Tod folgen wollte. Es wird meines Erachtens während des Lesens sehr deutlich, dass er die ganze Zeit über die treibende Kraft war.
Zitat:
Er wünscht sich, dass sie mit ihm geht, will ihr aber Zeit lassen.
Er schreibt ihr in einem Brief: "Auch wenn es für mich das größte Glück ist, mit dir gemeinsam zu gehen, habe ich das größte Verständnis dafür, wenn du dich weiter für das Leben entscheidest."
Sie antwortet ihm ebenfalls schriftlich: "Du musst dir keine Gedanken machen, du hast mich nicht gedrängt. Du hast mir einen Schritt aufgezeigt, der nach vielen Überlegungen auch für mich richtig ist. Du bist bei mir und wirst mich halten. (...) Weiter wünsche ich mir, dass wir noch eine Fahrt mit einem Heißluftballon machen."
Er antwortet: "Das waren Emotionen pur!"
Und dann leitet er alles in die Wege, sowohl den gesamten Sterbeprozess, die Gutachten, die Kommunikation mit den verschiedenen Stellen, als auch die Ballonfahrt. Nebenbei schreibt er ein Buch über das alles.
Das hinterlässt bei mir insgesamt einen unangenehmen Beigeschmack – aber den Artikel fand ich trotzdem extrem interessant, gerade aufgrund dieser Ambivalenzen und auch, weil der Ablauf des gesamten Prozesses ausführlich beschrieben wurde.
Mir war zwar klar, dass die Gesetzeslage geändert wurde, aber mir war nicht richtig bewusst, dass es inzwischen diese Möglichkeit in Deutschland gibt und wie genau das jetzt ablaufen kann.
Fall sich irgendwer dafür interessiert, der Bericht ist in der Stern-Ausgabe vom 13.4.22 zu finden.